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- Kolumne von Manfred Vogel
Gnade – was ist Gnade?
Normalerweise schreibe ich meine Kolumnen im Büro oder zuhause. Aber diesen Beitrag schreibe ich aus dem Urlaub. Vom Campingplatz in Thusis in den Graubündner Bergen. Davor war ich eine Woche im Ferienhäusle in Allensbach am Bodensee. Von dort blickt man direkt auf die Klosterinsel Reichenau. Gegründet vom Heiligen Pirminius, den wir natürlich in Pirmasens gut kennen, feiert man die Gründung vor 1300 Jahren anno 724.
Zum Kloster Reichenau gibt es eine Legende: Das Kloster hatte im Mittelalter auch die weltliche Gewalt über seine Gebiete. Ab und an kam es auch vor, ein Übeltäter oder auch nur armer Kerl wurde zum Tode verurteilt. Damit war man schnell zu der Zeit. Da aber die Klosterinsel „Heiliger Bezirk“ war, durfte dort niemand hingerichtet werden. Also wurden die Verurteilten über den See nach Allensbach gerudert, wo die Hinrichtungsstätte war. Wenn dem Abt doch noch die Begnadigung einfiel, ließ er eine Glocke läuten. Oder bewegte der Wind die Glocke? Was muss das für ein Bangen und Hoffen bei den Delinquenten gewesen sein während der Überfahrt?
Was für eine Gnade war das überhaupt? Aus Laune des Abtes, plötzlicher Meinungsumschwung, Zufall? Gut für denjenigen, dem die Glocke läutete. Doch die anderen?
Im Christentum gibt es ein ganz anderes Verständnis von Gnade. Es ist die Liebe Gottes zu uns Menschen. Deshalb kam Christus als Mensch zu uns. Durch seinen Tod und Auferstehung wird uns die Schuld vergeben, Gnade geschenkt und die Möglichkeit zum Neubeginn. Daran glauben wir Christen.
Aber einfach so: Gnade geschenkt, nicht aus Laune oder Meinungsumschwung, auch nicht aus „ach, war doch nicht so schlimm, das Urteil wird aufgehoben“? Das geht uns nach menschlichem Verständnis gegen den Strich. Wo bleibt die Gerechtigkeit? Wobei, was ist Gerechtigkeit? Jedenfalls gibt es Gesetze und Regeln, die es zu beachten gilt. Wozu wären sie sonst da? Kein Staat und keine Gesellschaft würden ohne sie funktionieren. Es gibt Strafen, wenn dagegen verstoßen wird. Zum Glück nicht mehr so drastisch und von willkürlicher Gnade abhängig.
Auch bei Gott gibt es Gesetze und Regeln. Aber sie haben doch noch einen besonderen Charakter. Es sind Lebensregeln. So sollt ihr leben, damit es euch und anderen gut geht. Damit das Zusammenleben funktioniert. Das Ganze begleitet von Gottes Liebe und Segen. Wenn aber doch was schief geht, auch weil wir es nicht schaffen können, alle guten Regeln immer zu beachten? Dann greift die Gnade: das Angebot, wenn ich Fehler einsehe und bereue, dann verzeiht mir Gott und schenkt immer wieder die Chance zum Neubeginn. Wohlgemerkt, ich darf nicht treiben, was ich will. Böses Tun hat Folgen. Aber wenn ich mich um Neubeginn und Gottes Verzeihen mit, dann darf ich wissen und vertrauen, Gnade ist mit mir. Nicht das bange Hoffen, läutet während der Fahrt zur Hinrichtung doch noch die Glocke.
Ob die Legende aus Allensbach stimmt, wird historisch bezweifelt. Aber eine bemerkenswerte Erzählung ist es doch.
In diesem Sinne, schöne Grüße aus dem Urlaub und auch Ihnen eine gesegnete Sommerzeit!
Manfred Vogel
Dipl.-Sozialpädagoge (FH) mit Theologischer Zusatzausbildung und Ordination. Er arbeitet beim Gemeindepädagogischen Dienst des Prot. Kirchenbezirks Pirmasens und ist u.a. in der Altenheimseelsorge und Gemeindearbeit tätig und hält Gottesdienste. Er ist Mitglied im Kreisvorstandsmitglied bei Bündnis 90/Die Grünen sowie ehrenamtlich in verschiedenen Vereinen im sozialen und gesellschaftspolitischen Bereich aktiv.